Let´s sing another song! Protest! von N. Raffelsiefen
Die Qual der Wahl begleitet die Zuschauer beim Besuch des Protest-Parcours des Künstler:innen-Kollektivs Polar Publik im FWT. Das gesamte Theater gleicht einem bunten Markt der Möglichkeiten. An den unterschiedlichsten Orten im Haus laden einzelne Stationen zum aktiven Mitmachen, Schauen, Lesen und Hören ein. Das Foyer wurde vorab unter Mithilfe der Initiative Bewegte Bäume in einen begrünten Park verwandelt. Hier stimmen Musiker an der Elektro-Orgel mit bekannten Protestsongs die Besucher ein, während es gilt, sich mithilfe des Programmblattes einen Überblick zu verschaffen. Wer möchte, kann sofort in medias res gehen und einen Protestbrief verfassen und in die Post stecken. Oder lieber doch erst einmal die Glieder strecken beim Protestgestenyoga? Das wird auf dem Bildschirm einer Blackbox in Endlos-Schleife vorgeturnt. Oder im Crash-Kurs der Schauspielerin und Kommunikation-Coach Judith Wolf folgen, die eine kleine, praxisorientierte Einführung in die personenzentrierte Gesprächsführung gibt. Dabei gilt es, bei der schier endlos erscheinenden Menge an Angeboten, einen Blick auf den detaillierten und eng getakteten Ablaufplan zu werfen, damit nicht die zentralen Programmpunkte verpasst werden. Das sind zwei szenische Arbeiten, die das Thema mit musiktheatralischen Mitteln behandeln. In der Performance „Where Where You: Genuis“ entwickelt sich eine surrealistische Mini-Oper, bei der der Genese einer bürgerlichen Revolte nachgespürt wird, die an der Kaffeetafel ihren Anfang nimmt. Eine Kombination aus Opernsopran (Ute Eisenhut) und zwei Synthesizern (Axel Lindner, Oxana Omelchuk), die verfremdete Popsongs ausspucken, bilden den musikalischen Background, vor dem Fiona Metscher und Eva-Maria Baumeister einen eigenwilligen Generationsstreit austragen. Den emotionalen Höhepunkt des Abends setzt die zweite Performance „Schießt doch!“. Die gebürtige Belarussin Oxana Omelchuk verarbeitet in ihrer Komposition die blutig niedergeschlagenen Proteste in ihrem Heimatland. Auf der Bühne liegen 15 Snare Drums, aufgereiht wie eine kleine musikalische Armee. Während elektronische Instrumente den Klang der Trommeln zu einem immer bedrohlicher werdenden „Wall of Sound“ anschwellen lassen, demonstrieren die drei Frauen - neben Oxana Omelchuk agieren hier noch Fiona Metscher und Eva-Maria Baumeister - auf der Bühne barfüßig ihre Verletzlichkeit. Bald greift jede der Frauen zu einer Trommel, die einem Schutzschild gleich, vor das eigene Gesicht gehalten wird, damit aber auch das Individuum hinter einer Maske verschwinden lässt. Erst als das Trio ein gemeinsames Lied anstimmt, werden neben den Stimmen auch ihre Gesichter wieder erkennbar. Der allmählich anschwellende Chorgesang erweist sich als belarussisches Schlaflied, das die mutigen Frauen in Belarus dem Diktator Lukaschenko als feinsinnigen Protest gesungen hatten. Ein leises Fanal, gerichtet an die dröhnenden Diktatoren in aller Welt, das auf sehr berührende und anschauliche Art und Weise den Zuschauern vor Augen führt, wie man äußere und innere Widerstände mit subtilen Mitteln und Mut überwinden kann.
FWT, 13.11., 17 Uhr und 14.11., 18 Uhr!
WDR 3, Kultur am Mittag
Seit 40 Jahren fallen dem rheinischen Braunkohletagebau in apokalyptischer Zerstörung Dörfer, Wälder und bester Ackerboden zum Opfer. 21 weitere Orte sollen in den nächsten Jahren abgerissen werden. Die ihrer Häuser, Höfe, Kirchen und Friedhöfe beraubten Einheimischen: „Umgesiedelt“. Aber weg sind sie nicht, im Gegenteil: Jetzt sind sie auf der Bühne des Freien Werkstatt Theaters, eingeladen von dem Team von Polar Publik, dem die Bilder vom brachialen Abriss des „Immerather Doms“ im Januar 2018 einen Schlag versetzten. Ihr Thema seitdem: „Verschwindende Orte oder Was uns retten kann“.
Der Protest der Nachbarn im Westen ließ sich lange überhören. „Wir haben alle legalen Mittel versucht“, erklärt eine resignierte Bewohnerin: „Können wir als Bürger in diesem Land nur etwas erreichen, wenn man über Grenzen geht?“ Baumeister sammelte O-Töne u.a. in Keyenberg, Geräusche und auch ihr Verschwinden, wenn es kein Leben mehr gibt – ein unangenehm anhaltender Brummton markiert auf der Bühne die Präsenz der gigantischen Schaufelbagger, die sich 200 Meter tief in die Erde fressen. Inmitten der Zuschauer sitzen Mitglieder der Chorgemeinschaft aus dem Umsiedlungsgebiet Tenholt-Granterath-Hetzerath – Zeugen, die immer wieder in die Mitte treten, um von ihrer Wut zu sprechen oder bar jeder nostalgischen Süße vom Brunnen vor dem Tore zu singen.
Die vermeintlich Ohnmächtigen haben eine Stimme und fühlen sich von der aktuellen „Hambi“-Bewegung durchaus bestärkt. Das geht nah, umso mehr, als sich Baumeister für ihre „musiktheatralische Choreografie“ nicht auf das Dokumentarische beschränkt, um nach Entmündigung, Solidarität und Widerstand, durchaus auch nach Zwiespalt zu fragen. Eine fiktive Architektin (eindringlich Fiona Metscher) spiegelt Revolte wie Resignation und entfaltet vor einer fragilen Glasharfe ihre Utopie einer besseren (Lebens) Energie. (SK)